1907 - Kein Jahr großer
geschichtlicher Ereignisse. Theodor Roosevelt erhält den
Friedensnobelpreis und Edvard Grieg stirbt im Alter von 64 Jahren.
In England regiert König Edward VII. Es ist die Zeit der großen
Industrien. Riesige Gründerzeitbauten und hohe Kaminschlote prägen
das Gesicht der englischen Hauptstadt London. Der Gegensatz zwischen
bitterster Armut der arbeitenden Gesellschaftsschichten und dem
extremen Reichtum einiger Weniger bereitet den Nährboden für soziale
Spannungen, die zu Ereignissen führen werden, deren sich das noch
junge Jahrhundert gar nicht bewusst ist.
Musikalisch gesehen ist es die Epoche der Romantik. Oper und Operette stehen in voller Blüte, unzählige Uraufführungen bedeutender Werke werden gefeiert. Auch die Orgel feiert eine Renaissance. Nach der Hoch-Zeit in der Epoche des Barock mit den klangvollen Orgelbauernamen Silbermann oder Schnitger und dem Übervater aller Komponisten J.S. Bach geriet die Orgel zwar nicht in Vergessenheit, führte jedoch ein wenig beachtetes Nischendasein.
Dies änderte sich jedoch im 19. Jahrhundert. Mit dem Aufkommen der Oper und des romantischen Gedankens erblühte die Orgelkultur erneut. Der Klang dieser Instrumente orientierte sich nicht mehr an den barocken Vorbildern der Vorfahren, sondern am üppigen, gefühlsbetonten orchestralen Klang der Oper.
In dieser Zeit war es James Jepson Binns, der für die anglikanische Kirche im Londoner Stadtteil Putney eine Orgel errichtete. Es war das 413. Werk dieser großen Firma, die zeitweise an die 100 Leute beschäftigte und deren Firmengebäude sich durchaus mit den fabrikähnlichen Werkstätten der renommierten europäischen Orgelbauer wie Walcker, Sauer etc. messen konnten.
Mit drei Manualen und 30 Registern wurde op. 413 ein Musterbeispiel der klanggewaltigen englisch-romantischen Orgel mit dem für Binns typischen System der vollpneumatischen Schleiflade. Die aufwändige Steuerung innerhalb der Windladen mittels mehrerer kleiner und großer Keilbälgchen erlaubte ein erstaunlich präzises Spiel.
Weit mensurierte Register
standen neben feinen, charaktervollen Solostimmen und ergaben ein
breites Spektrum an Orgelklang, neogotisches Schnitzwerk zierte das
Gehäuse aus Nadelholz.
So verrichtete das Instrument über viele Jahrzehnte seinen Dienst.
Nach dem Tod des
Firmengründers fiel die ehemals bedeutende Firma Binns zurück in die
Bedeutungslosigkeit.
Deswegen wurde 1953 die Orgel von der Firma Willis überholt und
teilweise umgebaut. Die originale Intonation wurde jedoch beibehalten
- was sich Jahrzehnte später als Glück herausstellen sollte.
Gegen Ende des 20. Jhdts. sah sich auch die anglikanische Kirche wachsenden Finanznöten gegenüber. So wurde auch die Kirche zu Putney profaniert und die Orgel 1994 von Mitgliedern der Gemeinde abgebaut und im Kirchenraum gelagert.
Renaissance
Wenige Jahre später
entdeckte der Wuppertaler Musikalienhändler Andreas Ladach die
demontierte Orgel und verlegte sie in sein Instrumentenlager, der
ehemaligen Wuppertaler Trinitatiskirche.
Es zeigte sich, dass die Orgel nicht von Fachleuten demontiert wurde -
viele Teile fehlten oder waren sehr in Mitleidenschaft gezogen. So
stand der Orgeltorso in bedauernswertem Zustand etliche Jahre, bis die
Kirchengemeinde "Heilig Kreuz" zu Bonn-Limperich auf dieses
Instrument aufmerksam wurde.
Fast 100 Jahre nach dem Bau der Orgel gerieten wir von Orgelbau Schulte das erste Mal mit ihr in Berührung. Die oftmals nur in Fragmenten erhaltenen Orgelteile machten die Erstellung eines Konzepts nicht leicht, doch es wurde recht schnell allen Seiten bewusst, dass dort ein aussergewöhnliches Instrument im Dornröschenschlaf schlummert.
Viele Stunden und Tage beschäftigten wir uns mit den Orgelteilen. Ideen entstanden und wurden verworfen, es wurde viel diskutiert. Soll sie rekonstruiert werden? Welche Art der Traktur erhält sie?
Das Konzept
Zusammen mit dem Orgelsachverständigen des Erzbistums Köln Eckard Isenberg wurde beschlossen, von einer Rekonstruktion, deren Wert aus technischer, architektonischer und nicht zuletzt auch aus finanzieller Hinsicht mehr als zweifelhaft gewesen wäre, abzusehen.
Unser Konzept sah die
Symbiose aus Altem und Neuem vor.
Viel mehr als lediglich "aus Alt mach Neu", mehr als eine
"Wiederverwendung aus Kostengründen". Wir sehen darin eine
Neuinterpretation eines historischen Werks für die
Heilig-Kreuz-Kirche zu Limperich. Die Einzigartigkeit dieses Projekts
nicht nur im Rheinland, sondern schon bundesweit, machte uns
natürlich noch glücklicher, als wir von Pfarrer Thomas Schäfer
tatsächlich den Auftrag erhielten, für Limperich diese Orgel zu
bauen.
Schnell wuchs die Orgel dem ganzen Betrieb ans Herz. Sonja Füßmann und Oliver Schulte legten extra wegen dieses Projekts über 600km in England während einer Studienreise zurück, um dort ausgiebig den "Geist der englischen Orgelromantik zu atmen" (s. auch "Dank an Freunde").
Die Queen am Rhein!
Viele Wochen und Monate wurden nun in unserer Firma die historischen Teile behutsam restauriert (unter anderem auch die aufwändigen Keilbälgchen innerhalb der Windladen) und auch etliche neue Erweiterungen im Sinne des ursprünglichen Gedankens hergestellt.
Eine Zeit, in der wir unsere Erfahrungen voll ausschöpfen konnten und auch viel Neues dazugelernt haben - eine Zeit, in der wir alle ein Stück gewachsen sind.
Abschließend bleibt zu
sagen, dass "die Binns 413" nach zehn turbulenten Jahren
wieder einen würdigen Platz gefunden hat und nun als "Binns -
Schulte - Orgel" wieder für lange, lange Zeit ihre
charaktervolle Stimme ertönen lässt.
Oliver Schulte